Die Arbeit „JEDEM DAS SEINE LEO“ greift das Schicksal ihres polnischen Großvaters Leo Stachowiak auf, der nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen 1939 zur Rettung seines Heimatlandes aufrief, daher von der Gestapo verhaftet wurde und in der Folge eine Odyssee durch mehrere deutsche Konzentrationslager antrat: 1939-1940 Schutzhaft Beuthen, 1940-1941 KZ Sachsenhausen, 1941-1942 KZ Neuengamme, 1942 KZ Arbeitsdorf bei Wolfsburg, 1942 KZ Buchenwald. In Buchenwald starb er am 13. April 1945, zwei Tage nach der Befreiung des Lagers, an Lungentuberkulose. Die Briefe, die er an Frau und Kinder geschrieben hatte, haben sich erhalten. Kaluza sah sie als Kind oft in den Händen ihrer Großmutter. So wurde sie schon von Kindes-alter an mit der Familiengeschichte, die sie bis zum heutigen Tag prägt, konfrontiert und belastet.
Im Medium sowohl der skulpturalen Kunst wie auch der Konzeptkunst, mit den für die zeitgenössische Kunst typischen Materialien Plexiglas, rostiger Stahl und Sackleinen, reflektiert Kaluza die eigene Familiengeschichte in einer künstlerischen Form, die weit über das Persönliche hinausgeht. Sie schließt vielmehr das Schicksal aller KZ-Häftlinge und Verfolgten des NS-Regimes ein, die Figur des Großvaters steht prototypisch als Einzelner für alle Opfer der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft. Zugleich konfrontiert die Künstlerin den Rezipienten ihres Werkes nicht nur mit der deutschen Vergangenheit, sondern auch mit der Frage nach seinem eigenen Wissen darüber, nach seiner gegenwärtigen Haltung dazu.
Ein filigranes Gestell aus rostigem Stahl trägt einen leeren Würfel aus Plexiglas. Die Vorderwand reflektiert das Spiegelbild des Betrachters und weist diesen so auf sich selbst zurück. In die glänzende Fläche ist eine Linse eingelassen wie in eine „camera obscura“. Durch das transparente Material Plexiglas wird der Kubus jedoch zu „camera lucida“, zur hellen Kammer (Roland Barthes), die vom Schein der Erinnerung gleichsam erhellt ist und einen Raum für eigene Projektionen des Betrachters bildet.
Bewusst wählte Kaluza für die Linse ein Fabrikat von Carl Zeiss in Jena, profitierte doch dieses Unternehmen von der Zwangsarbeit der Häftlinge und gehörte zu den wichtigsten deutschen Produzenten von rüstungs- und kriegsrelevanter Optik. Die Linse kann um 90 Grad gedreht werden, so dass sie im rechten Winkel zur Vorderwand steht und diese zu teilen scheint. Auch dies ist bedeutungsvoll, denn – so die Künstlerin – wie jede Medaille, so hat auch die Historie zwei Seiten, die miteinander erst ein vollständige Bild ergeben.
Nach hinten schließt eine Wand aus rostigem Stahl den Würfel ab. Durch die Linse erkennt man Zahlen auf dieser Rückwand. Es sind die Nummern, die dem Häftling Leo Stachowiak in den verschiedenen Lagern zugewiesen wurden. Am größten erscheint die letzte, die Buchenwalder Nummer, die vor ihm bereits mehrere andere verstorbene Gefangene innegehabt hatten. Je nach Standpunkt nimmt man die Ziffern, mal verschwommen, mal scharf, mal horizontal gespiegelt wahr. Auch darin drückt sich ein multiperspektivisches Geschichtsverständnis aus.
Kaluzas Säule ist auch ein skulpturales Werk von allseitiger Ansicht, das umkreist werden will. Der Gang rundherum führt zur Rückseite der Wand aus rostigem Stahl. Dort sticht dem Betrachter eine Anzahl von eingebohrten Punkten ins Auge, die nach einem bestimmten, jedoch nicht unmittelbar verständlichen System angeordnet sind. Die Assoziation an einen Lageplan der deutschen Konzentrationslager liegt nahe. Bei den Punkten handelt es sich jedoch um die in Braille-Schrift geschriebenen Namen der Lager, in denen Leo Stachowiak inhaftiert war – ein Verweis auf die damalige und heute immer noch anzutreffende Blindheit der Deutschen gegenüber den NS-Verbrechen. Doch so wie die Punkte ins Metall gebohrt sind, soll sich das Schicksal der Verfolgten des NS-Regimes ins Gedächtnis der Menschen bohren.
Die zwei Säcke zu Füßen des Gestells erden gleichsam das Kunstwerk und stellen eine persönliche Reminiszenz der Künstlerin dar: Sie stammen vom Gutshof des Großvaters und stehen für ihre heimatlichen und familiären Wurzeln. Zusammen mit dem Material des rostigen Stahls sind sie ein Zeichen von Vergangenheit und Vergänglichkeit.
„JEDEM DAS SEINE LEO“ von Sabina Kaluza erweist sich damit sowohl in ästhetischer als auch semantischer Hinsicht als ein Werk der zeitgenössischen Kunst, das den Betrachter durch seine persönlichen Implikationen zu berühren vermag und einen wesentlichen Beitrag zur Erinnerungskultur an die jüngere deutsche Vergangenheit leistet.
Dr. Regine Nahrwold, Kunsthistorikerin